Derby im Lokschuppen – ESV wird süddresdner Handballmeister und feiert unerwartetes Comeback
Weißt du noch damals … So oder so ähnlich beginnen diese biergeschwängerten Erzählungen alter Männer, ...
die ihren längst vergangenen Erinnerungen nachhängen. Dann werden zig mal die gleichen Anekdoten berichtet – jeder aus seiner Sichtweise, die Grenzen von Sein und Schein verschwimmen und es entsteht ein Mythos, eine Erzählung, die es wert ist, von Generation zu Generation weiter gegeben zu werden. Ich will heute Zeugnis ablegen von solch einem besonderen Moment, von dem wir einst unseren Enkeln berichten werden. Ich war dabei und bin dankbar, dass ich es war …
Aber beginnen wir von vorn. Gestern war wieder so ein Tag, an dem Mann am liebsten zu Hause bleibt, um mit der Frau die zukünftige Hausausstattung zu planen, oder sich ein Farb- und Dekorationskonzept für die Abstellkammer zu überlegen. Doch – welches Glück – im Kalender steht, dass abends Handball im heimischen Lokschuppen ansteht. Und dazu soll heute nicht irgendwer zu Gast sein. Ein wahrlich großer Name hat sich angekündigt und der kundige Zuschauer von der Weißeritz durfte sich auf die Reserve der Reserve des lokalen Profihandballvertreters freuen. Dazu kommt noch die besondere Tabellenkonstellation. Es steht das Duell der Verfolger an. Der Vierte empfängt den Fünften: Es geht um nicht weniger als die prestigeträchtige und vollkommen belanglose süddresdner Hallenhandballmeisterschaft, die seit geraumer Zeit als Hin- und Rückspiel in der Verbandsliga Sachsen Ost ausgetragen wird.
Ich betrete die Kabine und lasse den Blick schweifen. Handgezählte 5, 6, 7 Spieler blicken mit müdem Blick drein. Wie viele passen doch gleich auf’s Protokoll? Egal, da kommen bestimmt noch einige später! Das Entscheidende ist aber nicht die Quantität sondern die Qualität. Dann noch ein paar erhellende Worte vom Motivationshoffmeister – bedingungsloser Wille – kampfbetontes Spiel – starker Gegner – enge Kiste – und schon kann es losgehen. Kurzes Abtasten und Austausch liebevoller Nettigkeiten … Tor, Gegentor und das gleiche wieder von vorn. Der erste Schreckmoment kommt nach nicht einmal 10 Minuten, unser Noch- und Wiedereuropameister muss sich zum Luftholen auf den Knien abstützen, ein Blick auf die Bank verheißt da nichts Gutes. Die 3 verfügbaren Wechselspieler haben eine Körpergröße von maximal 1,75 m und wiegen zusammen weniger als das Hoff‘sche Steak vom Mittag. Ist aber halb so schlimm, da es erstaunlich gut, man möchte fast meinen, erschreckend gut läuft. Die Abwehr macht den Gandalf und lässt den Gegner nicht vorbei. Vorne gelingt viel, wenn nicht sogar alles und die Eisenbahner bestaunen einen soliden Vorsprung.
Doch das reicht dem ESV heute nicht. Wir schreiben die 21. Spielminute. Beim Stand von 12 zu 8 beschließt der Trainerstab, dass jetzt nur noch ein neuer Spieler alten Schwung ins Spiel bringen kann. Das kann aber nicht irgendjemand sein! Frischer Wind aus der Zweiten Mannschaft muss her, jemand der das XXXL-Trikot des ESV wahrlich ausfüllen kann. Nur Mister ESV himself kann diese Last tragen und so wirft sich der Hoffmaster persönlich in die Arena. Das ich diesen Moment noch miterleben darf – und muss! Aber was für eine Augenweide, welch geschmeidige Bewegungen, die die begeisterten Zuschauer heute bewundern dürfen.
Der Gegner findet derweil den Fehler im eigenen Spielsystem und wirft die eigene Taktik on board über den Haufen. Der kluge Ansatz wird prompt umgesetzt und einfach mal auf 4 statt 6 Feldspieler umgestellt. Clever! Doch die Eisenbahner durchschauen den unkonventionellen Versuch bauen den Vorsprung auf 8 Tore aus. Doch der ESV wäre nicht der ESV, wenn man nicht noch einen drauf legen möchte. Ein direkter Freiwurf muss noch rein. Ein Fall für den ESV-Kanonier mit der Peitsche. Der lasert einfach mal die Mauer weg. Kurze Beratung und die Leistung wird mit einem Platz auf der VIP-Tribüne honoriert. Zeit durchzuatmen und das Gesehene zu verarbeiten. Der versprochene heiße Ritt auf der Rasierklinge war bisher ausgeblieben, die taktische Vorgabe war folglich nur bedingt erfüllt. Als erste Maßnahme wurde die rechte Außenbahn kurzerhand zur Terra inkognita erklärt. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert. Wer nun einen typischen ESV-Start in Halbzeit 2 erwartet hat, musste sich erstaunt wundern, schließlich zog die alte Dame von der Weißeritz auf 17 Tore davon. 17? Ich bin immer noch sprachlos. Um den knappen Vorsprung doch noch irgendwie über die Zeit zu retten beorderte sich der Hoffinator auf das Feld. Wenn man diese Gazelle elegant über das Spielfeld schweben sieht, merkt man sofort, dass dieses Können am Kreis verschwendet ist und er auf die wahre Königsposition gehört. Passend dazu nahmen sich die Rückraumspieler schrittweise selbst vom Feld. Ich möchte ja niemanden Absicht unterstellen. Aber wenn einer beim loslaufen einfach so in sich zusammensackt, bleibt ein komisches Gefühl. Seltsam, aber der zweite Ballschleuderer konnte sich nicht so richtig in dieses Spiel hineinbeißen. Man möchte fast meinen, ihm wurde der Zahn gezogen. Vielleicht aber auch gleich 4. So kam der Schlüsselmoment und ich kann immer noch nicht glauben, was da passiert. Unser frischgebackener neuer Altzugang nahm die Verantwortung an und warf das Spielgerät mit Wucht und Präzision ins Tor. Ein würdiger Schlussstrich für den ESV an einem Abend, der allen, die dabei waren, noch lange Stoff für die fantastischsten Geschichten liefern wird.
Für den ESV standen Spalier zu „The Return of the one and only Hoffman himself“
Tor: Robbe Karl, Rückrückraumshooter Robin (1).
Feld: unweißer Gandalf (3), Laserphaser (2), ohne Mittagsschlaf fang ich nicht an, der Chronist eines wahrhaft epischen Momentes, ab durch die Mauer (2), Quote gute alles gut (5), der Unschreibbare (8), Europameister der Herzen (2), Platzkartenverkäufer (9/3), der einzig wahre Hoffinator 2020 reloaded (1)